Abschied vom Lowperformer – 18.08.2015
Die Arbeitsbedingungen bei Amazon sind hart. Aber auch deutsche Firmen greifen zu umstrittenen Methoden, um Mitarbeiter auszusortieren. Zugeben wollen sie das nicht.
Vertrauen in die eigenen Mitarbeiter ist gut – doch allein damit kommt kein Chef sehr weit. Wer die Leistung seiner Mitarbeiter wirklich einschätzen will, der greift auch zu gewissen Formen von Kontrolle.
Doch wie streng sollen die im Einzelfall sein? Diese Fragen wirft der Fall Amazon auf. Ehemalige Mitarbeiter haben dem US-Konzern ein gnadenloses Bewertungsklima, überhohe Arbeitsanforderungen und eine knallharte Personalpolitik vorgeworfen. Doch Amazon ist längst nicht das einzige Unternehmen, das seine Angestellten derart zur Höchstleistung treiben will. Auch deutsche Firmen kommen ohne Druckmittel anscheinend kaum noch aus.
Das zeigen etwa Plattformen wie Companize, wo Arbeitnehmer sich über ihren Arbeitgeber austauschen können. Plattformbetreiber Jens Sander hat mehr als 1.000 Bewertungen von Firmen ausgewertet. Die Kommentare würden auf unfaire Praktiken in einigen Unternehmen hindeuten. Wiederholt sprechen die Mitarbeiter von einem “Klima der Angst”. Einige Beschäftigte empfinden “Willkür bei Kündigungen”, sagt Sander. Häufige Krankheit oder der Wunsch nach mehr betrieblicher Mitbestimmung oder weniger Überstunden würden öfter zu Problemen im Arbeitsverhältnis oder Entlassungen führen als gedacht. Die Mitarbeiter fühlen sich angetrieben und gestresst.
Für den Arbeitgeber ist es ein schmaler Grat. Denn natürlich müssen Chefs auch zusehen, dass die Leistung der Mitarbeiter stimmt und diese deshalb auch messen, betonen Personalberater etwa von der Agentur Kienbaum. Schließlich sollen Boni und Beförderungen auch gerecht unter den Angestellten verteilt werden. Und wie sonst soll man schlechten Arbeitnehmern Fortbildungen oder Abmahnungen verpassen, wenn man diese nicht mal ausmachen kann? Die spannenden zwei Fragen sind: Wie misst der Arbeitgeber Leistung? Und wie arg greift er am Ende durch?
Der Kontrollzwang der Arbeitgeber sollte auf jeden Fall seine Grenzen haben, warnt Thomas Rigotti, Professor für Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie der Universität Mainz: “Natürlich muss überprüft werden, ob die vereinbarten Ziele erreicht werden – aber nicht permanent.” Der Discounter Schlecker ist das abschreckende Beispiel: Mit Kameras in Pausenräumen und auf der Toilette hat er den Kontrollwahn auf die Spitze getrieben. Beschäftigte dürften nicht den Eindruck haben, unter Dauerbeobachtung zu stehen, sagt Rigotti. “Das wird nicht nur als belastend und stressig empfunden, sondern löst im Mitarbeiter das Gefühl aus, dass ihm nicht vertraut wird – und das wirkt sich auf die Leistung negativ aus.”
Arbeitgeber klagen über Lowperformer
Naturgemäß sieht das die Unternehmerseite anders. Arbeitgeber hätten inzwischen gar keine andere Wahl mehr, sagt etwa Arbeitgeberanwalt Helmut Naujoks, der bekannt ist für provokante Positionen: “Die Koordinaten der Moral haben sich geändert: Blaumachen, Krankheit vortäuschen, innerlich kündigen, Tunnelblick und sich nur noch fragen: ‘Wann kommt endlich mein Feierabend?’ Diese innere Einstellung hat massiv zugenommen”, sagt Naujoks. Es könne nicht sein, dass Schlechtleister von den guten Mitarbeitern “durchgeschleppt” würden. Wer den Willen zur Leistungsbereitschaft nicht mitbringe, dem werde eben gekündigt.
In einigen Firmen hat das Aussortieren von Schlechtleistern – auf Neudeutsch: Lowperformern – sogar System, so wie bei Amazon. Das System heißt “Forced Rankings” und stammt vom ehemaligen General-Electric-Vorstand Jack Welch. Dabei werden alle Mitarbeiter in eine Leistungsskala eingruppiert. Die Regel der Normalverteilung besagt, dass 20 Prozent Top-Leute sein müssen, 70 Prozent Normalarbeiter und zehn Prozent Schlechtleister. Die schwächsten zehn Prozent fliegen regelmäßig raus, die Top-Performer erhalten Boni. In den USA, wo das Hire-and-Fire-Prinzip gilt, wird die 20-70-10-Regel oft praktiziert. In Deutschland ist die Kündigung dagegen nicht so einfach. Doch auch bei uns wenden viele Firmen das Prinzip an.
Auf der Arbeitgeber-Bewertungsplattform Companize nennen User namentlich deutsche Firmen, welche mit Forced Rankings arbeiten würden. Wer allerdings nachhakt, bekommt nur selten eine Bestätigung. “Nach meinen Erfahrungen outen sich Firmen in der Regel nicht als Anwender von Forced Rankings”, sagt Michael Beckmann, Professor für Personal der Universität Basel. “Selbst Unternehmen, von denen man eigentlich sicher weiß, dass sie Forced Rankings verwenden, versuchen zu beschwichtigen, indem sie behaupten, die Notenverteilungen wären lediglich ‘Empfehlungen’ für die Beurteiler.”
Das System macht es einfach für den Arbeitgeber
Nach Einschätzung von Vergütungsberatern setzt rund ein Drittel der Firmen auf Systeme mit Eingruppierungszwang, in welcher Form auch immer. Gemeinsam haben alle Systeme, dass sie versuchen, die Leistung eines Mitarbeiters in Relation zu den Kollegen zu bewerten. Arbeitgeber sehen vor allem die Vorteile des Eingruppierungszwangs: Sie wissen genau, wo ein einzelner Mitarbeiter steht – und nicht nur etwa eine ganze Abteilung.
Doch Personalforscher Beckmann ist überzeugt, dass Forced Rankings langfristig eher Schaden anrichten würden. Mitarbeiter würden sich vielleicht am Anfang anstrengen, um sich im neuen System zu bewähren. Aber die Rankings würden einen zu starken Wettbewerb unter den Mitarbeitern erzeugen. Aus Kollegen, die eigentlich zusammenarbeiten sollen, würden Konkurrenten. Dabei passten Wettbewerb und Teamarbeit einfach nicht zusammen. Forced Rankings würden sogar Mobbing oder Sabotage befördern, weil jeder Mitarbeiter besser dastehen wolle als der Kollege, ist Beckmann überzeugt. Verschiedene Konzerne hätten daher von den Rankings schon wieder Abstand genommen. Microsoft gab offiziell seine Abkehr bekannt. Auch Infineon soll sie abgeschafft haben.
Forced Rankings führen zu absurden Ergebnissen
Zudem führt das Beurteilungssystem zu einem absurden Ergebnis. Denn was passiert, wenn etwa ein Mitarbeiter in einem Team von Überfliegern und Top-Performern gelandet ist? “Selbst wenn der schlechteste Mitarbeiter immer noch gute Arbeit leistet, gehört er im Forced Ranking zu den Versagern und sollte, so will es das System, rausgeschmissen werden”, so Stefan Bornemann, Berater für Unternehmenskultur. Auch neue Mitarbeiter, Teilzeitkräfte oder Ältere hätten in dem System schlechte Karten, warnen Forscher.
Am Ende können Forced Rankings sogar mehr Schaden anrichten, als dass sie den Unternehmen helfen. Warum das so ist, erklärt Arbeitspsychologe Thomas Rigotti so: “Ein Betriebsklima, in dem das Konkurrenzdenken stark ausgeprägt ist, führt oft dazu, dass Beschäftigte sich auf sozial unangemessene Weise Vorteile gegenüber den Kollegen verschaffen.” Fühlten sich die Mitarbeiter wegen der Beurteilungen vom Vorgesetzten unfair behandelt, werde es noch heikler. Sie würden ihre Leistung zurückschrauben und sich gegenüber dem Arbeitgeber illoyal verhalten. Das könne gar bis zum Diebstahl am Arbeitsplatz führen. “Auf Dauer leiden solche Mitarbeiter auch unter Stress, der zu körperlichen und psychischen Erkrankungen führen kann.”
Was aber auch zum vollständigen Bild gehört: Es sind auch die Mitarbeiter selbst, die das Betriebsklima mitbestimmen. Das entwickele sich über die Jahre selbst und werde oft gar nicht bewusst von Managern gesteuert, sagt Organisationspsychologe Rigotti und nennt als Beispiel die Erreichbarkeit nach Feierabend. “Häufig wird das überhaupt nicht offen angesprochen, weil sich jeder sagt: ‘E-Mails auch abends lesen – das macht hier doch jeder.’”
Rigottis Empfehlung an die Arbeitgeber: Sie sollten nicht der Versuchung erliegen, alles kontrollieren zu wollen. Das koste nur Energie und binde Ressourcen. “Weniger Kontrolle bedeutet ein Vertrauensbonus. Das steigert in aller Regel die Arbeitsleistung.”